Neue Stadt, neues Glück?

Irgendwann ist es für alle soweit. Das Elternhaus wird verlassen und der Umzug in eine eigene Wohnung oder WG, oftmals in eine anderen Stadt ist geplant. Anfängliche Euphorie weicht dann schnell neuen Sorgen. Welche Komfortzonen müssen junge Leute verlassen, die zum ersten Mal ausziehen und einen neuen Lebensabschnitt beginnen? Welche Ängste und Sorgen gehen mit dem Erwachsenwerden einher und wie kann man sich ihnen stellen?

Sie lauern hinter dem seit Wochen aufgeschobenen Telefonat beim Finanzamt oder der einen Reise, die man eigentlich schon immer einmal machen wollte und es dann doch nicht tut. Die Rede ist von Komfortzonen. Der „Couch“ im eigenen Leben, dem Bereich, in dem sich Menschen sicher und geborgen fühlen, Abläufe vertraut sind und der Wohlfühlfaktor garantiert ist. Einfach mal von dieser Couch aufzustehen ist oft leichter gesagt als getan, die eigene Komfortzone zu verlassen fordert viele heraus. Die damit verbundenen Unsicherheiten und Ängste vor dem Neuen und Unbekannten begegnen gerade jungen Menschen auf dem Weg des Erwachsenwerdens an vielen Stellen. Mit dem Schulabschluss in der Tasche heißt es für viele Ex-Schüler*innen von gewohnten Strukturen und dem behüteten Alltag Abschied zu nehmen. Die in diesem Zusammenhang wohl meist verhasste Frage “Wie geht es jetzt weiter?” muss erst einmal für sich selbst beantwortet werden. Und selbst wenn dies geschehen und der Ausbildungs- oder Studienplatz sicher ist, heißt das noch lange nicht, dass Überforderung und neue Ängste verschwinden.

Besonders wenn es um den Umzug in eine neue Stadt geht, ergeben sich unzählige Situationen und Probleme, die in den Jahren zuvor mit gutem Gewissen auf Eltern oder andere Vertrauenspersonen abgewälzt werden konnten. Dann heißt es plötzlich, eine Schlüsselübergabe zu vereinbaren oder die Studierendenkarte am neuen Campus zu validieren. Neben der Frage, was denn überhaupt ein Validierungsautomat ist, tauchen in den Köpfen vieler Studierenden auch erste Unsicherheiten und Sorgen auf. Was, wenn ich einen Fehler mache? Wenn ich hingehe und niemand ist da? Wenn ich den Ort XY nicht finde? Verlockend erscheint da der Gedanke, einfach zu Hause zu bleiben und es sich in der vertrauten Umgebung gemütlich zu machen. Die kann bei unterschiedlichen Personen verschieden weit gefasst sein. Christian Meyer, der als Psychotherapeut in Frankfurt arbeitet, beschreibt die eigene Komfortzone vielmehr als “ein Spektrum” und nicht als einen klar umrissenen Bereich. Die Übergänge zwischen Wohlfühl- und Angstzone, zwischen einem Gefühl der Vertrautheit und Unsicherheit seien dabei fließend.

Wo die persönlichen Grenzen liegen, werde stark von unseren bisherigen Erfahrungen und unserem Umfeld geprägt, erklärt Meyer. „Wenn mir schon früh gezeigt wird, dass das Leben in Bewegung ist, wenn Eltern schon verschiedene Dinge ausprobieren und ich erlebe, wie mit ihrem und meinem Scheitern, Ausprobieren und Gelingen umgegangen wird, dann hat das einen enorm großen Einfluss und bildet so etwas wie die Ausgangssituation.“ Zwar sei es je nach Ausgangssituation unterschiedlich schwer, sich das Verlassen der Komfortzone anzueignen, grundsätzlich sieht Meyer dafür jedoch das Potenzial bei jedem Menschen. „Es ist vielleicht unterschiedlich aufwendig und intensiv, die Kraft der Erfahrung darf man dabei aber nicht unterschätzen. Schon eine gute Erfahrung kann einen Menschen auf den Geschmack bringen, weitere Dinge auszuprobieren und zu erleben.“

Selbstwirksamkeit als Schlüssel

In der Psychologie spricht man hierbei von der sogenannten “Selbstwirksamkeitsüberzeugung”. Wer die Erfahrung macht, dass das eigene Handeln eine Wirkung hat und eine positive Veränderung nach sich zieht, der eignet sich die Überzeugung an, dass auch zukünftiges Handeln wirksam sein kann. „Dieser Parameter der Selbstwirksamkeitsüberzeugung hat einen großen Einfluss darauf, wie sich meine nächste Entscheidung bezüglich dem Verlassen einer Komfortzone gestalten wird“, betont Meyer. Positive Erfahrungen ziehen also einen positiven Lerneffekt mit sich, genauso verhält es sich jedoch auch andersherum. Christian Meyer erklärt, dass jeder Mensch auch Momente des Scheiterns erlebt. Wer jedoch von klein auf eher im Aufgeben bestärkt wird oder auch später im Leben gehäuft negative Erfahrungen macht, dem werde es auch später schwerer fallen, die eigene Komfortzone zu verlassen. Dafür schlecht fühlen sollte man sich jedoch keinesfalls, denn gerade in Phasen des Umbruchs seien Unsicherheiten nichts Seltenes und Angst sogar ganz normal. „Das ist eigentlich das Menschlichste, was man sich vorstellen kann. Vieles um mich herum ändert sich, vieles kann ich auch im Vorfeld noch gar nicht bemessen”, erklärt der Psychotherapeut. “Angst in einer Umbruchphase ist auch wichtig. Hätten wir keine Angst oder Sorgen, dann würde man vielleicht auch wichtige Dinge übersehen. Angst kann uns wachsam machen.“ Auch in der Verhaltenstherapie gehe es beispielsweise nicht darum, eine bestimmte Angst zu besiegen, sondern zu lernen, auf eine gesunde Art mit ihr umzugehen.

Meyer habe die Erfahrung gemacht, dass gerade seine jüngeren Patient*innen schon geübt darin seien, über solche Themen zu sprechen. Trotzdem gebe es auch bei ihnen immer wieder Situationen, in denen das Gefühl entsteht, etwas für sich behalten zu müssen. Der Psychotherapeut möchte junge Menschen ermutigen, sich über Sorgen und Ängste in solchen Umbruchphasen auszutauschen. Sie könnten beispielsweise im Freundeskreis schon früh ansprechen, wenn sie bestimmte Unsicherheiten plagen. „Wenn Sie anfangen darüber zu reden, werden Sie feststellen, dass die größte Mehrheit um Sie herum dieselben Themen gerade belasten und dass das zu dieser Lebensphase als Teil der Realität dazugehört.“

Typische Ängste, die mit dem Umzug in eine neue Stadt einhergehen, sind die Angst vor Einsamkeit und dem fehlenden sozialen Anschluss. Auch Lara aus Darmstadt, die in einer neuen Stadt Lehramt studiert, berichtet von solchen Sorgen. Diese waren unter anderem Gründe für sie, erst einmal nicht umzuziehen. „Nach dem Abi wusste ich nicht genau, wie das finanziell und wohnungstechnisch klappen würde. Ich hatte Sorgen wie: „Finde ich genug Kontakte, um mich wohlzufühlen? Wird diese neue Stadt das Gefühl in mir auslösen, zuhause zu sein?“

Ähnliches erzählt auch Hanna. Sie ist 21 Jahre alt und studiert Onlinekommunikation an der Hochschule Darmstadt. „Dadurch, dass in der Heimat meine Schwester und meine Freunde sind und das Verhältnis zu meinen Eltern echt gut ist, hatte ich schon Respekt davor, wie alles wird, wenn man nicht mehr in der Komfortzone und im „normalen Alltag“ ist“, erzählt sie. Für sie waren neue Bekanntschaften sehr hilfreich. „Durch die richtigen Menschen haben sich diese Ängste zum Glück schnell wieder gelegt.“

Ab wann ist Hilfe nötig?

Doch was, wenn es nicht mehr reicht, mit guten Freund*innen oder der Familie zu sprechen? Ab welchem Zeitpunkt wird eine Angst so groß, dass es sinnvoll ist, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen? Lebensphasen wie der Wechsel ins Studium oder an einen neuen Wohnort seien Momente, in denen immer wieder Leute zu ihm kommen und Unterstützung suchten, erzählt Christian Meyer. Sich an einen Therapeuten oder eine Beratungsstelle zu wenden, mache immer dann Sinn, wenn die Lebensführung durch eigene Ängste eingeschränkt wird. “Wenn Sie beispielsweise dauerhaft nicht gut schlafen können oder merken, diese Anpassung an eine neue Lebenssituation gelingt nicht von alleine. Vielleicht merken Sie dann, dass die Angst sich ausbreitet, Sie ziehen sich immer mehr zurück und vermeiden immer mehr. Sie würden eigentlich gerne zu einer Eröffnungsveranstaltung im Semester gehen, entscheiden sich dann aber wegen Sorgen vor dem, was wird, dagegen. Es wird umso leichter sein, diese Muster wieder zu durchbrechen, je früher Sie sich beraten lassen und sich Hilfe suchen.”

Hilfsangebote für junge Menschen gibt es jedoch nicht nur in Form von psychotherapeutischer Unterstützung. Auch viele Ausbildungsstätten oder Universitäten und Hochschulen bieten Anlaufstellen für Fragen, Sorgen und Ängste. In Darmstadt gibt es diesbezüglich zum Beispiel ein breites Beratungs- und Veranstaltungsprogramm vom Studierendenwerk, das eine Sozialberatung sowie eine Psychotherapeutische Beratungsstelle umfasst. Studierende aus dem Ausland, Schwangere, Studierende mit Kind und Studierende mit Handicap finden hier genauso Ansprechpartnerinnen wie Studierende mit Zukunftsängsten, Fragen zur Studienwahl und vielem mehr. Wer es vorzieht von Gleichaltrigen beraten zu werden, der kann sich an studentische Studienberater*innen wenden. Darunter verstehen sich Studierende, die an der jeweiligen Universität oder Hochschule als Ansprechpersonen arbeiten und darin geübt sind, auf häufig aufkommende Fragen Antworten und hilfreiche Tipps zu geben.

Lisette ist eine von ihnen. Sie arbeitet an der Hochschule Darmstadt nebenher als Studienberaterin und ist vorrangig für ihren Studiengang Onlinejournalismus zuständig. “Gerade in der Bewerbungszeit, kommen Leute oft auf die Webseite der Hochschule und stöbern die verschiedenen Studiengänge durch. So landen viele dann bei mir”, erzählt Lisette. “Ich kann dann immer ganz gut erzählen, weil es bei mir damals ja genauso war. Man durchforstet jede Webseite und es ist echt schwer, da den Durchblick zu behalten. Oft sind Anliegen sehr persönlich und Face-to-Face bekommt man da einfach einen ganz anderen Einblick.” Gerade in ihrem Studiengang gebe es teilweise große Unterschiede zwischen dem, was im Modulhandbuch geschrieben steht und dem, was am Ende des Tages wirklich im Studienalltag stattfindet. Durch ein Gespräch mit ihr oder anderen Beraterinnen könnten Erwartungen korrigiert und Ängste genommen werden.

Den “falschen Weg” zu wählen oder Zeit in den “falschen” Studiengang zu verschwenden sind Ängste, von denen ihr oft berichtet wird. Lisette steht dem gelassen gegenüber. “Eigentlich ist es total egal, was man am Ende studiert, denn man findet so oder so seine Richtung. Aber die Angst davor, diesen ersten Schritt zu gehen und die erste richtige Entscheidung treffen zu müssen, muss man den zukünftigen Studierenden dann nehmen.” Eine Beratung durch Studierende erfolgt meist per E-Mail oder telefonisch. Berater*innen wie Lisette berichten aus ihrem Studienalltag, beraten passend zu Stärken und Fähigkeiten und beantworten persönliche Fragen. Wenn es um den Umzug in eine neue Stadt geht, empfiehlt Lisette die Instagram-Accounts der Hochschulen und Universitäten. “Da werden sehr oft Veranstaltungen veröffentlicht, wie zum Beispiel Partys oder Konzerte. Da lernst du unfassbar viele Leute kennen.”

Persönliche Kontakte sind wichtig

Den Sprung von Social Media-Kontakten zu realen Verabredungen und Veranstaltungen zu schaffen, fällt vielen wiederum schwer. Dabei seien persönliche Kontakte kaum durch solche aus dem Internet zu ersetzen, betont Psychotherapeut Christian Meyer. “Ich glaube, dass Social Media auch tolle Möglichkeiten bietet, einen Anfang zu finden, Informationen zu bekommen und mit vielen Leuten in Kontakt zu sein. Trotzdem ist es wichtig, dass genügend persönliche Begegnungen stattfinden, weil das psychologisch mit uns einfach etwas ganz anderes macht” Ein Anruf statt einer Email kann für viele junge Menschen heutzutage schon einen Schritt hinaus aus der Komfortzone bedeuten. “Hier lohnt es sich auf jeden Fall, aus der Komfortzone herauszutreten. Ich erweitere das Spektrum von dem, was möglich ist. Ich werde vielleicht auch hin und wieder irgendwo anrufen müssen und wenn ich das nicht im Alltag mal geübt habe, dann wird der Anruf beim Prüfungsamt richtig schlimm, weil ich generell nicht mehr so viel Telefonübung habe”, erklärt Meyer.

Älteren Personen fällt es währenddessen oft schwerer, sich auf Onlinedienste und Social Media einzulassen. Komfortzonen können sich also auch in verschiedenen Generationen oder je nach sozialem oder beruflichem Umfeld unterscheiden. Christian Meyer empfiehlt hier, offen zu sein für andere Mitmenschen. Somit könne auch anderen geholfen werden, Komfortzonen zu verlassen, die für einen selbst vielleicht ein geringeres Hindernis darstellen.
“Es lohnt sich immer, sich in seinen Gegenüber hineinzuversetzen und zu überlegen: Kann ich der anderen Person in irgendeiner Weise eine Brücke bauen? Kann ich etwas erleichtern oder kann ich auch Verständnis dafür haben, dass ich das zwar gut fände, aber mein Gegenüber eben nicht.”
Respekt vor den Grenzen anderer ist also wichtig, wenn es darum geht, gemeinsam Neues auszuprobieren. Gleichzeitig könne man auch selbst von der Hilfe anderer profitieren, erklärt Meyer. “Ich glaube, seine Komfortzone zu verlassen ist etwas, was man sehr schön gemeinsam machen kann. Gerade beim Studienanfang kann man sich gut absprechen. In welchen Kurs gehst du? Kommst du da morgen auch hin? Solche Dinge verkleinern die Hürden, wenn man sich das alles nicht so ganz alleine erarbeiten muss.”

Sich über eigene Grenzen und Hindernisse bewusst zu werden, beschreibt Meyer als weiteren sinnvollen Handlungsschritt, der das Verlassen der eigenen Komfortzone erleichtern könne. In kleinen Schritten könne dann daran gearbeitet werden, diese Hindernisse zu überwinden und nach und nach zu verringern. Ebenfalls lohne sich die Vorstellung, wie es sein könnte, wenn der gefürchtete Schritt getan ist. Ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben könne motivieren und Mut machen. “Wir befinden uns in stetigen inneren Herausforderungen und Konflikten”, betont Meyer. “Ich fände es schön, wenn es ein größeres Bewusstsein dafür geben würde, dass es ganz normal ist, dass wir uns weiterentwickeln und dass es gerade an den Rändern der Komfortzonen interessanter wird.” Etwas Schmerz und Angst seien dabei ganz normal. “Wir sollten nicht denken, da wo die Angst ist, kann der Weg nicht sein, denn dann nehme ich mir vielleicht auch die Chance auf eine neue gute Erfahrung.”

Konfuzius soll gesagt haben: “Wer ständig glücklich sein möchte, muss sich oft verändern”. Wer lernt, dass der Schritt hinaus aus der Komfortzone sehr positiv sein kann, mit all seinen Höhen und Tiefen, für den kann Neues Wagen im besten Fall zu etwas werden, was mit Freude und Mut angegangen werden kann.


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