“Ich konnte das alles nicht mehr”

TW: Folgender Text erwähnt Angststörungen, Essstörungen und Suizidgedanken

Lena ist bereits mehrere Jahre in Therapie gewesen, bevor sie sich mit 17 Jahren dazu entschließt, sich in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Knapp über zwei Monate war sie stationär untergebracht. Rückblickend erzählt sie von ihren Erfahrungen und Gedanken zu ihrem Aufenthalt.

Disclaimer: Zum Schutz der Persönlichkeit, wurden alle Namen der Beteiligten geändert. Folgender Text behandelt nur die subjektive Sicht und Erfahrung einer Person. Sie dient nicht als Repräsentantin für alle Patient*innen in psychiatrischer Behandlung.

Lena ist 21 Jahre alt. In ihrer Jugend litt sie unter starken Angstzuständen und Panikattacken. Bereits ab ihrem achten Lebensjahr benötigte sie therapeutische Unterstützung. Viele Therapien hatte sie über die Jahre jedoch abgebrochen.

“Sobald die Therapien eine solche Tiefenschwelle erreicht haben, in der ich mich extrem intensiv mit meinem Innenleben beschäftigen musste, wollte ich nicht mehr hingehen. Ich habe bei den Sitzungen oft um den heißen Brei geredet, anstatt mich wirklich darauf einzulassen.”

Zur Abiturzeit fiel es Lena zunehmend schwerer, sich auf die Abschlussprüfungen zu konzentrieren. Zum Therapeuten ging sie auch in dieser Zeit nur noch sehr unregelmäßig. Die Motivation fehlte. Der Alltag entwickelte sich zu einem stetigen Bewältigungskampf. 

Trotzdem wollte sie die Schule so knapp vor dem Ende nicht vernachlässigen, weshalb sie versuchte, ihre innere Unruhe zu ignorieren und ihre Probleme für den Moment beiseite zu schieben. Ihre Abschlussprüfungen konnte sie noch bewältigen, doch kurze Zeit später holte sie ihr innerer Kampf wieder ein.

“Ich war damals mit meiner Mutter in Hamburg. Dort hatte ich wieder einen Zusammenbruch. Ich konnte das alles einfach nicht mehr und ich musste in die Notaufnahme einer psychiatrischen Klinik. Ich musste vor Ort mehrere Stunden warten, bevor ich ein Gespräch mit einem Arzt hatte. Er sagte mir, dass ich stationär aufgenommen werden sollte. Daraufhin wurde mir dort ein Platz in einer Woche angeboten. Also sehr schnell. Ich hatte tatsächlich sehr viel Glück.”

Obwohl die Klinik in Hamburg weit weg von ihrem Heimatort war, wusste Lena, dass es die richtige Entscheidung war, sich dort Hilfe zu suchen. Auf herkömmliche Therapien konnte sie sich nie einlassen. Ein Aufenthalt in der Klinik war der erste radikale Schritt, sich mit ihrem mentalen Zustand wirklich auseinanderzusetzen. 

Nach dem Gespräch mit dem Arzt fuhr sie zunächst wieder zurück in die Heimat. 

Die Woche bis zu ihrer stationären Behandlung verlief sehr langsam. Sie hatte Angst vor dem, was auf sie zukam, war aber auch froh, dass sie diese Möglichkeit bekommen hatte. Es tat ihr gut, ein Datum zu haben und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken zu können.

In den ersten zwei Wochen in der Klinik fiel es der damals 17-Jährigen noch schwer zu realisieren, in welchem Umfeld sie sich gerade befand. Plötzlich war sie in einer neuen Umgebung. Der Alltagsstress wirkte fern. Sie konnte sich voll und ganz auf sich selbst konzentrieren. “Ein bisschen wie Urlaub” – So fühlte es sich an für Lena.

In dieser Zeit verhielt sich Lena sehr unauffällig. Ihr fiel es zunächst leicht, Regeln zu befolgen und mit anderen Patient*innen zu interagieren. Wie im Autopilot-Modus lebte sie ihren neuen Alltag dahin, ohne Anzeichen einer psychischen Erkrankung zu zeigen. Zu dem Zeitpunkt war ihr bewusst, dass sie eine Fassade aufbaute.

“Meine Therapeutin in der Klinik kannte diese Verhaltensweise von anderen Neupatient*innen bereits. Sie sagte mir, dass sie mich vorerst nicht therapieren kann, solange ich noch nicht richtig angekommen bin. Erst wenn ich mich heimischer fühle, werde ich in dem neuen Umfeld so zusammenbrechen, wie ich bereits zu Hause zusammengebrochen bin.”

Lenas Aufenthalt war zunächst nur für fünf Wochen geplant. Da sie jedoch eine lange Zeit brauchte, um anzukommen, sich ihren Therapeut*innen zu öffnen und sich ihrem momentanen Zustand bewusst zu werden, verlängerte sich ihre stationäre Behandlung um weitere fünf Wochen. Zweieinhalb Monate verbrachte sie insgesamt in der Klinik.

Ihren Alltag konnte sie dort ein Stück weit selbst gestalten. Mithilfe eines teilweise eigenst erstellten Wochenplans verlor Lena nicht die Routine. Bestimmten Verpflichtungen musste sie aber dennoch nachgehen.

“Generell drehte sich der gesamte Alltag um die drei Mahlzeiten, denn es war in der Klinik wichtig, einen stabilen Tagesablauf zu haben. Das heißt, um 7:45 Uhr musstest du am Frühstückstisch sitzen, um 12 Uhr war Mittagessen und um 18 Uhr gabs Abendessen. Es gab also bereits drei Zeitabschnitte am Tag, an denen man anwesend sein musste. 

Zwischen Frühstück und Mittagessen gab es auch Programm. In meinem Fall waren das Sportangebote, die ich machen konnte. Die durften aber auch nicht alle machen. Patient*innen mit einer Essstörung beispielsweise durften nicht an den Sportangeboten teilnehmen. Für sie gab es stattdessen andere Angebote, denen sie nachgehen konnten. Die Wochenpläne waren also sehr individuell ausgerichtet. 

Nachmittags hatte ich jeden dritten Tag ein Therapiegespräch. An den anderen Tagen durfte ich Entspannungsangeboten nachgehen, wie Akupunktur oder Massagen. Es fanden auch Unterrichtseinheiten zu unterschiedlichen Krankheiten statt. Dort lernte ich beispielsweise Skills, die ich im Moment einer Panikattacke anwenden könnte.”

Insbesondere die Skills sind Lena stark im Kopf geblieben. Auch nach ihrem Klinikaufenthalt versuchte sie sich in Momenten der Panik an die Beruhigungsmethoden zurückzuerinnern, die sie damals erlernt hatte. Bei einer Panikattacke versucht sie sich seitdem bewusst auf einen Gegenstand, Geschmack oder Geruch zu konzentrieren.

“Hilfreich kann beispielsweise sein, Pfefferkörner mitzunehmen, um darauf zu beißen. Der intensive Geschmack lenkt von anderen Gedanken ab. Ein typisches Hilfsmittel kann aber auch das Kneten eines Antistressballs sein. Natürlich heilen dich diese Gewohnheiten nicht, aber das können Kleinigkeiten sein, die dir im Alltag etwas helfen können.”

Den Wochenplan durfte Lena mit der Hilfe eines Therapeuten zusammenstellen. Wichtig war, dass sie vormittags und nachmittags jeweils ein Angebot nachging, um einen stabilen Tagesablauf zu haben. Hatte Lena zu viel Freizeit geriet sie nämlich in die Gefahr, sich zurückzuziehen. Einige Angebote waren verpflichtend, wie beispielsweise die Akupunktur. 

“Trotzdem konnte ich immer Bescheid sagen, sollte ich mich in irgendeinem Angebot nicht wohl fühlen. Normalerweise waren sie auch sehr zuvorkommend und gingen auf meine Wünsche ein. In den ersten zwei Wochen fiel es mir dann auch sehr leicht dem Plan zu folgen. Ich fühlte mich richtig gut und hatte das Gefühl, als hätte ich endlich Kontrolle über mich selbst.”

Nach den ersten Wochen brach das Hochgefühl bei Lena aber wieder ein. 

“Ich erinnerte mich plötzlich daran, dass ich aus einem Grund da war. Und wie aus dem Nichts fehlte die Motivation. Ich begann Angebote schweifen zu lassen. Beispielsweise war ich in der Klinik auch bei der Tanztherapie. Anfänglich fand ich es eigentlich echt cool und ich bin gerne hingegangen. Ich fühlte mich nach dem Tanzen wie befreit und es löste auch sehr viele Emotionen in mir aus. Zunächst fand ich das total toll, aber sobald ich spürte, dass ich so langsam in der Klinik ankomme, hatte ich plötzlich große Angst vor diesen Emotionen und begann die Tanztherapie zu vermeiden. Alte Muster von zu Hause kamen wieder zum Vorschein. Und dann war die Realisation auch erst da: Ich bin jetzt in der Klinik in einer geschützten Umgebung, aber irgendwann muss ich wieder zurück nach Hause und ich werde wieder auf mich selbst gestellt sein.”

Lena machte sich in der Klinik viele Gedanken um ihre Zukunft. Sie hatte das Gefühl, dass der Aufenthalt ihr nichts brachte, obwohl sie dankbar war, sich zumindest für den Moment besser zu fühlen. In ihre Zukunft blickte sie zu dieser Zeit pessimistisch.

“Alles was ich in der Klinik lernte war sehr theoretisch und ich war dazu auch noch in einer geschützten Umgebung. Wenn ich mich auch nur im Ansatz komisch fühlte, konnte ich immer zu einem Therapeuten rennen. Ich traute mir zu, dass ich nach dem Aufenthalt wieder in meine alten Gewohnheiten verfalle, wenn ich mich ganz alleine meinen Gefühlen und Gedanken stellen muss.”

Lenas Ängste wurden in der Hinsicht zunächst auch bestätigt. Sobald sie die Klinik verließ und wieder zu Hause ankam, fühlte sie sich genauso wie vor ihrem Aufenthalt. Wieder litt sie unter starken Panikattacken und wurde mutlos. 

“Ich bin zuhause erstmal nicht klar gekommen. Ich dachte mir die ganze Zeit: Ich habe doch alles getan, um wieder heim zu kommen. Und jetzt war ich da und konnte nicht aufhören darüber nachzudenken, dass ich so nicht mehr leben will. Tatsächlich hat es drei, vier Monate gedauert, bis ich erst bemerkt habe, dass ich viele Skills und Denkweisen, die ich in der Klinik gelernt habe, ganz unterbewusst in meinem Alltag zu Hause anwendete.”

Beispielsweise schrieb Lena während der Therapie in der Klinik viele Briefe an Menschen, denen sie etwas mitteilen wollte, ohne diese Briefe jemals abzuschicken. Insbesondere negative Gedanken und Gefühle konnte sie durch diese Übung leichter verarbeiten.

“Vor dem Klinikaufenthalt habe ich sowas noch nie gemacht. Ich habe damals eher versucht wütende Gedanken immer zu verdrängen. Sobald ich zu Hause war, habe ich mich viel mehr mit den Themen befasst, über die ich in den Briefen geschrieben habe. 

Das waren immer kleine Schritte, durch welche ich mich Stückchen für Stückchen wieder besser fühlte. Und irgendwann fiel mir auf, dass es mir garnicht mehr so schlecht ging, wie in der anfänglichen Zeit außerhalb der Klinik.”

Im Nachhinein betrachtet ist Lena dankbar für diese Erfahrung. Ihr Aufenthalt war zwar verbunden mit viel Seelenschmerz und großen Ängsten, doch es war ein wesentlicher Schritt, um sich in ihrem Gefühlschaos wieder zurechtzufinden.

“Vor allem wenn man an einem solchen Tiefpunkt in seinem Leben ist, hilft die Klinik aufjedenfall dabei, wieder eine Routine im Alltag zu finden. Außerdem tut es gut, auch mit anderen Patienten zu reden, die ähnliches durchmachen, wie man selbst. Ich habe mich nicht mehr so allein gefühlt. Einem muss dabei aber auch bewusst sein, dass die Klinik allein einen nicht heilen wird. Man soll es als Anstoß in die richtige Richtung sehen. Damit es einem aber wirklich besser geht, braucht es Zeit und Geduld. Vieles muss man auch selbst in die Hand nehmen. Ich bin mir aber sicher, dass jeder einen Weg zur Besserung für sich finden kann, selbst wenn eine herkömmliche Therapie einem persönlich nichts bringen sollte, wie es bei mir erstmal der Fall war.”


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