„Ich habe auf einmal das Wetter auf meiner Kopfhaut gespürt“

Ayla Işik war lange auf der Suche nach ihrer Identität. Ihr Weg dahin entschied sich zwischen Sicherheit und Freiheit. Doch war sie frei ohne Sicherheit und sicher ohne Freiheit? Die Autorin spricht über ihre innere Zerrissenheit, den muslimischen Glauben und wie sie ihr eigenes Ich fand.

Ayla Işik, geboren 1982 in einer deutschen Kleinstadt. Als große Schwester von fünf Brüdern wuchs Ayla in einer religiös muslimischen Familie auf. Eine Religion, die unkommentiert an die nächste Generation weitergegeben wurde. Der Glaube wurde ihr auf liebevolle, spielerische und eine selbstverständliche Weise erklärt. Sie lernte den Koran, wie man betet, was erlaubt und was verboten ist. Es war ihr Alltag. „Ich kann mich nicht erinnern, in irgendeiner Weise Zwang erfahren zu haben.“

Zur damaligen Zeit und vor allem in ihrer Kultur gab es noch oft die klassische Rollenverteilung von Mann und Frau. In Aylas Familie kümmerte sich jedoch ihr Vater viel um den Haushalt und betreute zum größten Teil die sechs Kinder. Für Ayla total normal. Verwundert war sie eher von anderen Familien, bei denen es ganz anders aussah. Auch zwischen Jungs und Mädchen wurden keine Unterschiede gemacht.

Je älter Ayla wurde, desto mehr kam das Thema des Kopftuchs auf. Ihr war klar:- Bald wird sie auch eins tragen. Die Frauen ihres Familien- und Bekanntenkreises trugen alle ein Kopftuch. „Dass ich es nicht trage, stand schon gar nicht im Raum. Ich wusste, ich müsste damit anfangen, wenn ich meine erste Periode bekomme.“ Ayla, trug jedoch schon vor ihrer ersten Periode das Kopftuch. Mit dem Schulwechsel entschied sie sich dazu, mit allem neu anzufangen. Neue Schule, neue Lehrer, neue Mitschüler, Kopftuch. Es hätte nicht mehr lang gedauert, dann hätte sie es sowieso tragen müssen.

“Wer bin ich?”

Die Periode und die Pubertät ist für alle Mädchen der Anfang des „Frau werdens“, im Islam gehört das Kopftuch oft dazu. „Man wird ein stückweit in die Liga der Frauen aufgenommen.“ Es war kein Zwang, es war ein normaler Schritt im Leben, so die Autorin. In ihrer Pubertät fragte sie sich zum ersten Mal „Wer bin ich?“. Diese Frage hatte zunächst jedoch nichts mit dem Kopftuch zu tun. Ayla hatte in ihrer Pubertät mit Vielem zu kämpfen. „Ich war schon immer die Unsportliche und Pummelige, die aufgrund ihrer Figur gehänselt wurde.“ Sie raufte sich eher mit Jungs, als mit Barbies zu spielen und Kleidchen zu tragen. Ayla probierte manchmal auch „typische Mädchensachen“ aus, da sie natürlich gesehen hatte, wie ihre Freundinnen spielten und was sie trugen. In dieser Zeit fühlte Ayla sich zum ersten Mal nicht zugehörig. „Ich habe meine Identität gesucht, aber nicht gefunden. Die Einflüsse von außen waren viel und damals konnte ich sie nicht filtern.“

Heute denkt Ayla anders über die Selbstverständlichkeit des Kopftuches. Ihrer Meinung nach sollte es nicht verboten, sondern zu einem späteren Zeitpunkt getragen werden. Wenn ein Mädchen reif genug ist und seine Bedürfnisse und Weiblichkeit kennengelernt hat, dann sei das Tragen des Kopftuches ein guter Zeitpunkt. Doch genau das ist es, was unterbunden wird, erklärt die 42-Jährige. „Sinn und Zweck ist es, dass die weibliche Identität mit dem Kopftuch assoziiert werden soll.“ Genau deswegen werde den Frauen schon sehr jung zum Tragen des Kopftuchs geraten. Mädchen würden so von klein auf sensibilisiert, ihren Körper und ihre Reize zu bedecken. „Ich bin mittlerweile der vollen Überzeugung, dass es überhaupt nicht positiv für die Entwicklung ist.“ Wenn alles vorgegeben sei, bleibe kein Platz, sich den Glauben selbst zu „erarbeiten“.

Die Bedeutung des Kopftuches

Mit dem Tragen des Kopftuches sei man verantwortlich, den Glauben nach außen hin positiv zu präsentieren. „Es war eine große Verantwortung, aber die habe ich mit Freude getragen.“ Das Kopftuch hat Ayla nicht als etwas gesehen, wofür sie diskriminiert wurde. Diese Zeit war jedoch noch vor dem 11. September 2001. Es gab noch keine richtige Stigmatisierung und wenn jemand ein Problem mit dem Kopftuch hatte, verteidigte sie es. Jeden Morgen zog sie sich an  und komplettierte ihr Outfit danach mit dem Kopftuch. „Ich wusste immer, wenn ich das Kopftuch aufsetze, bin ich jetzt eine Muslimin.“ Ohne Kopftuch war sie auch Muslimin, doch das Kopftuch war der sichtbare Ausdruck des Glaubens. Es war zudem ihre Eigenwahrnehmung, ihre Identität.


Als Ayla 27 Jahre alt war, entschied sich ihre Mutter jedoch dazu, ihr Kopftuch abzulegen. Für Ayla war das nicht verständlich. Sie hielt an ihrer Überzeugung zum Glauben und zum Kopftuch fest und verteidigte es „bis aufs Blut“. Sie fühlte sich von ihrer Mutter persönlich angegriffen und verraten. Nach sechs Monaten ohne Kontakt zwischen den beiden kam es zu einem Wendepunkt. Ayla beobachtete, wie sehr ihre Mutter aus dem Bekanntenkreis kritisiert und aufgrund ihres Verhaltens abgewertet wurde. Ayla empfand dies viel schlimmer, als dass ihre Mutter das Kopftuch abgelegt hatte. „Die haben sich zwar an die Regeln gehalten, doch auf der menschlichen Seite war das unterste Kanone. Das war der Hauptgrund, warum ich angefangen habe, alles zu hinterfragen.“

„Es war ein täglicher Kampf ums Überleben.”

Ihre Gedanken um das Kopftuch waren auch in ihrer Ehe präsent. Sie trennte sich von ihrem damaligen Ehemann. „Es war die fehlende Bereitschaft für Veränderung und Akzeptanz, auch mal anders zu denken und Freiheiten zuzulassen.“ Die gemeinsamen Söhne wohnen seitdem beim Vater. Sie musste sich entscheiden: „Entweder trenne ich mich und gehe alleine oder ich bleibe und alles bleibt beim Alten.“ Sie entschied sich für Ersteres. Ayla beschreibt diese Zeit ohne ihre Kinder als die schlimmste ihres Lebens. In den ersten Jahren nach der Trennung habe sie ihre neu gewonnene Freiheit nicht genießen können. Der Kontakt zu ihrem Ex-Mann und dessen Familie war noch vorhanden. Ayla wurde als Egoistin, Rabenmutter und Abtrünnige betitelt. Sie war auf einmal alleine, und das kannte sie nicht. Nun musste sie sich um Dinge wie Lebensunterhalt, Strom, und Telefonanschluss kümmern und irgendwie die Trennung von ihren Kindern verkraften. „Es war ein täglicher Kampf ums Überleben.”
Ayla blieb keine Zeit zum Nachdenken, sie durfte auch nicht darüber nachdenken. „Wenn du vor einem Säbelzahntiger stehst, dann denkst du nicht nach. Dann ist dein Körper voller Adrenalin und du rennst um dein Leben.“ Sie habe aber gemerkt, dass ihr Gottesvertrauen noch sehr stark ist, also betete sie die ersten Jahre noch regelmäßig. Die Momente, in denen sie betete, haben ihr Kraft gegeben.

Kopftuch abgelegt

In der nächsten Zeit hinterfragte sie das Kopftuch nicht nur. Ayla unternahm mehrere Versuche, das Kopftuch abzulegen. “Es ist nicht leicht, wenn das Ablegen des Tuches bedeutet, dass man von vielen der muslimischen Gemeinschaft nicht ernst genommen wird und dies als ein Schritt in die Ungläubigkeit gesehen wird.“ Die Versuche fühlten sich alle unterschiedlich an, doch eins hatten sie gemeinsam: Das Bedürfnis selbst entscheiden zu können.

2014 legt Ayla schließlich ihr Kopftuch ab. Zu dem Zeitpunkt war sie 33 Jahre alt.
Kurz nach der Trennung machte sie eine Kur, packte ihre Tücher in einen Koffer und fuhr los. Am Morgen des dritten Tages ging sie laufen. Es war Winter und sie trug eine Mütze. Auf dem Weg legte sie ihre Mütze ab. Es war also nicht ihr Kopftuch, sondern einfach ihre Mütze, die sie ablegte. „Ich habe auf einmal das Wetter auf meiner Kopfhaut gespürt.“ Überwältigung und schlechtes Gewissen machten sich in ihrem Kopf breit. Die Zeit in der Kur habe sie genutzt, um ihre Bedürfnisse und Wünsche in den Vordergrund zu stellen.

Zugehörigkeit

„Ich bin in die gefühlte Unsichtbarkeit verschwunden.“ Sie war wieder auf der Suche nach ihrer Identität. „Wer bin ich? Was macht mich aus? Wie kann ich, auch ohne Kopftuch, ein äußerliches Gefühl zu meinem Glauben haben? Brauche ich dieses äußerliche Symbol, um mich gläubig zu fühlen?“ Die Fragen nach der Identität seien stark verbunden mit dem Gefühl der Zugehörigkeit. Egal um welche Zugehörigkeit es geht, die meisten Menschen suchen diese im Äußeren. Dabei sehen diese Menschen nicht, wie wichtig es ist, die Zugehörigkeit im Inneren zu finden, um unabhängig zu sein, erzählt Ayla. Sich mental damit auseinanderzusetzen und sich selbst und seine Ansichten zu hinterfragen ist ein großer Schritt zur Unabhängigkeit. Die Zugehörigkeit hat auch viel mit Rollenzuschreibung zu tun. Ayla hatte die Rolle der großen Schwester. Nach einer frühen Hochzeit war sie Ehefrau, Schwägerin und Schwiegertochter – und dann Mutter. Und neben all dem war sie außerdem Muslimin. „Und in all diesen einzelnen Rollen war ich irgendwie nie ich. Das Ich stand nie so richtig im Vordergrund, weil ich das Ich auch nie so richtig kennenlernen konnte.“

Gläubig ohne Kopftuch?

Das Kopftuch war weg, doch auch der Glaube? Viel geändert habe sich nicht, erzählt Ayla. „Das Kopftuch war nicht nur auf meinem Kopf, es war auch in meinem Kopf. Die Regeln des Islams, die ich immer gelebt hatte, waren ständig präsent.“ Auch ihr Kleidungsstil ist erstmal gleich geblieben. Ihre Sexualität war noch genauso, wie sie sie kennenlernte und auch ihr weibliches Körpergefühl hat sich nur langsam verändert. Sie habe versucht, diese neue Freiheit mit den alten Regeln zu vereinen. Das funktionierte jedoch nicht. Ayla baute sich also eine neue Welt auf. Eine Welt mit eigenen Regeln, die angelehnt an ihre Werte und ihre Erfahrungen waren. „Ich habe jetzt einen viel engeren und tieferen Glauben, als ich ihn früher hatte, weil ich ihn komplett selbst erarbeitet habe.“

Neue Welt

Viele aus ihrem Bekanntenkreis haben ihre neue Welt nicht verstanden. Ayla musste sie überzeugen, dass sie immer noch gläubige Muslimin ist, nur eben kein Kopftuch trägt. Sie erklärte und rechtfertigte sich. Es wurden Bittgebete, die sogenannte „Duʿā’“ für sie gemacht, aber sie sei nicht ernst genommen und sogar bemitleidet worden. Wurden ihr die Kommentare zu viel, habe sie auch oft provokante Fragen zurück gestellt und Diskussionen provoziert. So ging es über mehrere Monate. Für Ayla war dies irgendwann keine gute Grundlage, um auf Augenhöhe mit Menschen zu reden. Sie distanzierte sich immer weiter von diesen Menschen. Mit der Zeit traten neue Menschen aus ganz anderen Gründen in ihr Leben und nicht nur weil sie eine Religion teilten. Diese neuen Menschen teilten die gleichen Interessen oder sprachen dieselbe Sprache, dieselbe emotionale Sprache, erzählt Ayla. „Es war wie ein Filter. Es kamen Menschen, die zu mir passten. Das kam durch meine Erfahrungen und durch meine Kenntnis über mein eigenes Ich. Die Löcher des Filters wurden immer kleiner.“ Aylas Weg auf der Suche nach ihrer Identität war nicht leicht. Etwas aufzugeben, von dem man sein Leben lang überzeugt ist, ist für viele Menschen undenkbar. Ayla hat es durch das Hinterfragen ihrer Gedanken und Identität geschafft, ihr eigenes Ich zu finden.


Ayla Işik veröffentlichte ihr Buch „BeHauptet-Als Muslimin zwischen Sicherheit und Freiheit“ im Verlag Kiepenheuer&Witsch. Sie beschreibt den Weg als Muslimin, die ihren Glauben auf ihre Weise versteht, ausübt und selbst erarbeitet. Es ist ein Buch über das Hinterfragen der eigenen Person und Werte und das eigene Leben. Ein Leben, dass sich zwischen Sicherheit und Freiheit entscheidet. Die innere Zerrissenheit über die Religion stellt ein ganzes Leben auf den Kopf. 



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